Wort des Pfarrers zum Sonntag

Kleine Geste – große Wirkung: Der heilige Martin und die Mantelteilung

Der Kniefall von Willy Brandt 1970 in Warschau: eine Geste, ein Bild, das sich in das kollektive Gedächtnis in Polen und bei uns in Deutschland eingeprägt hat. Diese Geste steht seither für die Anerkennung der Schuld von uns Deutschen für die Gräuel am polnischen Volk im Nationalsozialismus. Ein anderes Bild: Helmut Kohl und Francois Mitterand halten einander die Hand 1984 auf einem Soldatenfriedhof in der Normandie. Auch dieses Bild hat sich eingeprägt. Diese Geste steht für die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland und die deutsch-französische Freundschaft.

Es gibt Gesten, die schreiben Geschichte. Solche Gesten bringen Hoffnungen und Botschaften derart auf den Punkt, wie es Worte nicht können. Sie sind so symbolträchtig, dass es eigentlich keiner Erklärung mehr bedarf. Sind die Wirkungen solcher Gesten „nachhaltig“? Zumindest halten solche – fast schon ikonographischen – Gesten die Erinnerung an einen Anspruch wach: den Anspruch, zur eigenen Schuld zu stehen und um Versöhnung zu bitten, den Anspruch eines festen Freundschaftsbundes.

Solche ikonographischen Gesten wie im politischen Bereich gibt es auch in der Geschichte des Christentums: die Fußwaschung Jesu zum Beispiel braucht keine wortreiche Erklärung, um ihren Anspruch auch für die Gegenwart deutlich zu machen. Eine andere, vergleichsweise symbolträchtige Geste rückt alljährlich bei uns im Umfeld um den 11. November – dem Martinstag – wieder neu ins Bewusstsein: Martin, ein römischer Soldat, sieht am Stadttor von Amiens einen frierenden Bettler. Er teilt mit seinem Schwert den Soldatenmantel und gibt dem Bettler die Hälfte. Viel Brauchtum hat sich rund um diese Geste und den Martinstag entwickelt.

Martin und die Mantelteilung – eine Geste mit ungeheurer Wirkungsgeschichte. Es geht um Barmherzigkeit. Es geht um eine konkret gelebte Solidarität. Mal ereignet sich diese Solidaritätsgeste von oben, vom Pferd herab – und mal auf Augenhöhe, einander gegenüberstehend. Das macht einen großen Unterschied für die Botschaft dahinter! Es geht nicht zuerst um die mehr oder weniger noble Geste des Martin. Es geht zunächst einmal um den Menschen in Not. Es geht nicht um ein gnädiges Erbarmen „aus der besseren Position“ heraus, sondern es geht zuerst um die Frage: Wie nehme ich den Menschen in Not wahr?

Martin ist sensibel genug, diese konkrete „Lücke der Mitmenschlichkeit“ zu erkennen. Die Geste der Mantelteilung ist daher auch Inspiration und Anspruch, sensibel und wachsam auf mein Umfeld zu schauen und mir selbst die Frage zu stellen: Wo sind Menschen, die gerade meine Hilfe brauchen? Die in körperlicher oder seelischer Not sind? Zum Christsein gehört diese Achtsamkeit. Die Lücken der Menschlichkeit wahrnehmen, ist ein großes Zeichen von Menschlichkeit. Die Geste der Mantelteilung bleibt da „ein Stachel im Fleisch“.

Rund siebzehnhundert Jahre sind es her, seit Martin am Stadttor von Amiens seinen Soldatenmantel mit einem Bettler geteilt hat. Es bleibt eine Geste mit einer starken Botschaft, die sich durch all die Generationen hindurch den Menschen in ihre Erinnerung eingeprägt hat. Diese Geste des Teilens hat nichts an inspirierender Kraft verloren.“

(Erzbischof Udo Markus Bentz aus Paderborn)