
Mut zum Staunen
An Weihnachten wird gestaunt, was das Zeug hält. Die Erzählung des Evangelisten Lukas kommt von einer unglaublichen Szene zur anderen: Ein Kind wird im Stall geboren zur Rettung der Welt – von einer Jungfrau. Engel erscheinen den schreckensstarren Hirten und verkünden den Frieden auf Erden; Weise aus dem Morgenland huldigen dem Säugling, und dessen Eltern stehen da und wissen nicht, was sie sagen sollen.
Das unbändige Staunen über das, was da rund um das Neugeborene geschieht, zieht sich als Faden durch die Erzählung des Lukas. Nur hat sich in den 150 Jahren, in denen Weihnachten zum weltweit erfolgreichsten, durch nichts zu stoppenden bürgerlichen Familienfest geworden ist, ein anderes, eigenes Weihnachtsstaunen entwickelt. Es ist heimelig und festtagsverträglich. Große Kinderaugen staunen im Angesicht von Tannenbaum und Kerzenschein; Erwachsene tun erstaunt beim Auspacken längst erwarteter Geschenke. Das Staunen ist dann Produkt eines kalkulierten Überraschungsmoments. Kein Wunder, dass da Selbstgenügsamkeit wächst, die allem misstraut, was den Bogen der eigenen Wahrnehmungen und Meinungen sprengen könnte.
Doch wer nicht staunen kann, bleibt gefangen im eigenen Horizont. Für den griechischen Philosophen Platon war deshalb das Staunen der Anfang der Philosophie, des Nachdenkens darüber, was die Welt wirklich ist. Das Staunen steht am Anfang jeder Entdeckung: Sieh an, die Welt ist anders, als ich bis eben gedacht habe – weiter, offener, vielfältiger, bunter, größer. „Wer sich nicht mehr wundern kann, ist seelisch bereits tot“, sagte Albert Einstein. Zumindest leidet er unter Wirklichkeitsverkürzung; nur wer staunt, sich wundert und bewundert, für den kann der Wasserfall mehr sein als Wasser, das nach unten fällt. Staunen ist das „Tor zur Wirklichkeit“, wie es der Theologe Josef Bill formuliert.
Dieses Staunen ist ein Risiko. Wer staunt, steht erst einmal dumm da: mit aufgerissenen Augen, offenem Mund und hängenden Schultern, erstarrt. In diesem Moment sind alle seine Souveränität und Selbstsicherheit dahin. Wer staunt, ist aus dem Gleichgewicht, hilflos gegenüber dem Unerhörten und unfähig, es in Worte zu fassen. Er ist ergriffen und irritiert vom Fremden, das da gerade auf ihn einstürzt. Der Staunende wird zum großäugigen Kind.
Wer staunen können will, muss sich angreifbar machen, sich treffen lassen, muss die Wahrheiten, die er mit sich durchs Leben führt, als vorletzte sehen lernen. Die Weihnachtsgeschichte ist auf dieses irritierende, unbändige Staunen hin angelegt, das die Konventionen sprengt und das Gewohnte durcheinanderwirft. Die Hirten und Weisen, die Eltern des Kindes, staunen über das Große, das sich da im Kleinen offenbart: im Kind, das in die Windel macht und Umstände- halber im Stall geboren wurde, das demnächst ein Flüchtlingskind in Ägypten sein wird. In diesem ganz und gar verletzlichen Wesen liegen Heil und Erlösung der Welt. Hirten und Weise knien vor dem, der die Maßstäbe über den Haufen wirft.
Das wiederum ist erschreckend, beunruhigend. Die Engel mussten den Hirten auf dem Feld erst einmal das Zittern ausreden: Fürchtet euch nicht! Der Schrecken geht in der Weihnachtserzählung mit dem Staunen einher; sie bedingen einander. Das Weihnachtsstaunen setzt dem aus all den dunklen Ecken hervorspringenden Schrecken entgegen: Du hast nicht das letzte Wort. Es setzt dem Erschrecken über die Erderhitzung das Staunen über Millionen Menschen entgegen, die sich nicht damit abfinden wollen – und die Erkenntnis, dass es ginge, wenn man wollte. Dem Schrecken des Krieges begegnet es mit dem Staunen über die Menschlichkeit inmitten der Gewalt, dem Elend der Flucht mit dem Wunder der Hilfsbereitschaft. Und allen Weltuntergangsängsten steht das Staunen darüber entgegen, dass es mehr Möglichkeiten zur Rettung der Welt gibt, als man sich je denken kann.
Mit diesen weihnachtlichen Gedanken von Matthias Drobinski aus der Süddeutschen Zeitung wünsche ich uns allen mehr Mut zum Staunen; das wäre ein schönes Weihnachtsgeschenk: mehr Mut, sich berühren zu lassen von etwas, das größer ist als man selbst, als die eigene kleine Welt, der eigene Horizont, das eigene Wissen. Der Himmel ist offen, wenn man lernt, ihn offen zu sehen, ob religiös oder nicht. „Staunenswert sind deine Werke“, spricht überwältigt der Psalmbeter im Alten Testament. Möge uns das Wort „Mut“, das uns durch den Advent begleitet und geleitet hat und das ganz nah bei unserer großen Krippe in der Kirche steht, zum Staunen einladen.
Zum Weihnachtsfest grüße ich in herzlicher Verbundenheit alle Alten, Kranken, Einsamen und Traurigen sowie unsere Glaubensgeschwister der evangelischen Gemeinde St. Markus. Mut zum weihnachtlichen Staunen möchte ich allen von Herzen wünschen, die die Verbindung zu unserer Pfarrgemeinde in diesem Jahr gelöst haben – aus welchem Grund auch immer. Ihnen und Euch allen wünsche ich viel Grund zum Staunen bei den weihnachtlichen Begegnungen und Botschaften, die wir empfangen. Und dann Mut zum Aufbruch in das neue Jahr, in dem der Katholikentag im Mai in Würzburg mit seinem Motto ein Leitwort für unseren Weg schenkt: Hab Mut, steh auf! So lade ich sehr herzlich zu unseren Gottesdiensten in diesen kostbaren Tagen ein sowie zu unserem Neujahrsempfang am Sonntag, 11. Januar in der Maingauhalle, der uns einstimmt auf ein besonderes Jahr für unsere Gemeinde: Unsere Laurentiuskirche feiert 75. Geburtstag und unser neues Haus der Begegnung soll im Herbst eröffnet werden. Wenn das nicht alles Gründe zum Staunen und zum Feiern sind. Machen wir mit! Nur Mut!
Heribert Kaufmann